Niederlande: Ein Heim auf Zeit

118 minderjährige Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea finden für zwei Wochen mehr als nur eine Unterkunft im Zentrum der Fokolar-Bewegung in Mariënkroon.

Zunächst galt die Zusage für drei Tage, doch dann blieben sie ganze zwei Wochen. Eine Welle der Hilfsbereitschaft ermöglicht eine Erfahrung der besonderen Art und lässt sehr verschiedene Menschen eine echte Begegnung erleben, bereichernd für beide Seiten.

Beatrix Lauenroth berichtet von zwei außergewöhnlichen Wochen:

Auf der Flucht

118 Kinder und Jugendliche sind auf der Flucht. Sie suchen eine neue Heimat. Das 9 Hektar große Terrain von Mariënkroon in den Niederlanden wird zu ihrem Anlaufpunkt. Im 2. Weltkrieg hatten hier fast 1700 Menschen bei den Zisterziensermönchen der Abtei Zuflucht gefunden. Heute, siebzig Jahre später, suchen wieder Menschen Schutz in diesen Mauern. Dieses Mal ist es die Fokolar-Bewegung, heutiger Eigentümer der Abtei, die auf Anfrage der Gemeinde Heusden die Flüchtlinge aufnimmt.

Anbessa ist Tigrinja und bedeutet „Löwe“. Aber der magere 16-Jährige Anbessa aus Eritrea wiegt gerade einmal 40 Kilo und erinnert eher an einen verhungerten kleinen Vogel. Auf der Flucht aus seiner Heimat nach Holland ist er um fast 30 Kilo abgemagert.
Maya ist 14 Jahre alt und sitzt eingeschüchtert neben Hadi, ihrem drei Jahre älteren Bruder. Sie kämpft mit den Tränen. Heimweh nach den Eltern und die Erschöpfung  einer langen Reise von Syrien nach Nirgendwo spiegeln sich in ihrem Gesicht wieder.

Anbessa, Hadi und Maya gehören zu einer Gruppe von 118 minderjährigen Jugendlichen. Unter ihnen sind nur 15 Mädchen. An diesem Sonntagabend Ende September erwarten die freiwilligen Helfern ihre jungen Schutzbefohlenen mit klopfendem Herzen. Drei Tage lang haben alle hart gearbeitet: Raum schaffen für viele Stockbetten, einen Speisesaal vorbereiten, Einkaufen, Kochen, Betten beziehen. Werden die Helfer den Ankommenden gerecht werden können?

Die Jungen und Mädchen sind zwischen 14-17 Jahre alt. Viele haben ihre Eltern auf der Flucht verloren, andere wurden von Vater und Mutter auf den Weg geschickt, um in einem neuen Land Asyl anzufragen und so auch der Familie den Weg in eine sichere Zukunft zu bahnen. Nigisti reist mit einem großen Koffer und ihrem modernen Handy. Sie ist erst seit drei Wochen unterwegs und direkt in die Niederlande gekommen. Frank ist aus dem Kamerun und seit zwei Jahren auf der Flucht. Der letzte Stopp war Marokko. Seine Habe findet in einer Plastiktüte Platz.

Das tägliche Leben

Anfangs herrscht bei den jungen Flüchtlingen Misstrauen, und jeder behält sein mehr oder weniger umfangreiches Gepäck besorgt im Auge. Es wird einige Zeit dauern, bis sich die Atmosphäre entspannt hat.

Hier wird nun vieles von dem relativiert, was die ehrenamtlichen Helfer über den pädagogisch richtigen Umgang mit Teenagern zu wissen meinen. Ergaleem, Birhane und die anderen haben traumatische Dinge erlebt. In einer Nacht wird Brandalarm ausgelöst. Während viele Kinder vor Angst gelähmt sind oder in Weinen ausbrechen, weil die Sirene schreckliche Erinnerungen in ihnen wachruft, bleiben andere unberührt im Badezimmer und duschen weiter. Sie sind Schlimmeres gewohnt.

In einer anderen Nacht bricht im Zimmer der Mädchen Panik aus. Einsamkeit und Angst werden im Dunkeln besonders bedrängend. Alle Helfer sind auf das Äußerste gefordert, um die Situation unter Kontrolle zu halten, damit die Unruhe nicht auf die ganze Gruppe übergreift. Und auch tagsüber flackern öfters Konflikte auf, zwischen den ethnischen Gruppen, unter Zimmergefährten. Die räumliche Enge kann erdrücken. Wie geht man damit um?

Neun der Jugendlichen werden seit Wochen von einem Notauffanglager zum anderen geschoben, ohne eine feste Bleibe zu finden. Nun sind die Nerven zermürbt. Die Situation im neuen Land scheint ohne Perspektive. Plötzlich müssen die Helfer lernen, mit lebensgefährlichen Kurzschlussreaktionen der jungen Leute umzugehen. Die Spannung unter allen wird fast unerträglich. Endlich zeigt sich für die Jungen dann eine Lösung. Sie kommen in eine andere Stadt, wo sie auch psychologisch besser betreut werden können.

Nach einer Woche ist das gegenseitige Vertrauen etwas gewachsen. Sheshi bietet sich an, als Verbindungsmann zwischen Betreuern und Jugendlichen zu fungieren. Er möchte dafür die orangene Weste der Angestellten anziehen. Josef und sein Freund bringen dem Abt der Abtei, der als letzter seines Orden noch auf dem Terrain wohnt, eine prächtige Orchidee als Zeichen ihres Respekts und ihrer Dankbarkeit. Einige junge Männer engagieren sich beim Staubsaugen, andere helfen beim Aufräumen. Die Atmosphäre wird spürbar gelöster.

Das Kommunizieren miteinander ist manchmal - ungewollt - lustig. Nur wenige Jugendliche sprechen Englisch, und die Helfer können weder Arabisch noch Tigrinja. Piktogramme in den Zimmern und auf den Fluren, stürmisches Gestikulieren und eine Vokabelliste von B wie Bürgermeister bis Z wie Zuschließen machen die Verständigung dennoch möglich. Bei der Essensausgabe sagt Luwan, stolz über seine neu erworbene Sprachkenntnis, zu einer jungen Freiwilligen: Ich liebe Dich, was sie - zum Vergnügen der anderen – dann doch eben etwas verlegen macht.

Hilfe von Außen

118 Minderjährige in Mariënkroon. Schnell hat die Nachricht die Runde gemacht und eine Lawine der Solidarität ins Rollen gebracht. Der Pfarrer von Drunen bietet sich an, beim Tellerwaschen zu helfen, der Vorsitzende des evangelischen Kirchenrates lädt am Sonntag die Gemeindemitglieder ein, tatkräftig Unterstützung zu zeigen. Ärzte leisten Erste Hilfe. Ein Profifußballer gibt Fußballunterricht,  die Jugend aus der nahen Stadt steht stundenlang in der Abwaschküche, eine junge Frau aus dem Dorf kommt mit ihrer Verstärkeranlage, um Rap und Stepdance zu organisieren. Jemand spendet 100 neue Unterhosen, ein türkischer Bäcker stiftet das typische Brot, junge Syrerinnen helfen beim Übersetzen, Jugendliche und Erwachsene organisieren Sprachunterricht, Spiele, Workshops... jede Idee ist willkommen, um den jungen Flüchtlingen Nähe zu signalisieren. Eigentlich war von drei Tagen Notunterkunft die Rede gewesen, aber nach den tragischen Ereignissen der neun verzweifelten Jugendlichen hatten die Gemeinde von Heusden und die Fokolar-Bewegung, auf deren Grund und Boden sich die Flüchtlinge befinden, beschlossen, den Jungen und Mädchen 14 Tage die Möglichkeit zu geben, sich an ein und demselben Ort etwas zu erholen, zu schlafen und regelmäßig zu essen.

Einige von ihnen haben auch den Wunsch, mit ihren Glaubensgemeinschaften Kontakt aufzunehmen. So begleiten die unermüdlichen Helfer am Freitagabend 22 junge Moslems in die Moschee in eine nahegelegene Stadt, am Sonntag fährt ein Bus zur eritreisch-orthodoxen Gemeinde nach Rotterdam.

Ein Samenkorn des Friedens

An einem der letzten Tage ruft der Bürgermeister alle Helfer zusammen. Er möchte ihnen danken. In diesem Moment des Abschieds steigen allen Anwesenden die Tränen in die Augen. Auch der Bürgermeister schämt sich nicht, seine Rührung zu zeigen. Die gemeinsam angepackte Herausforderung, die Aufnahme der Flüchtlingskinder, hat alle Beteiligten zusammengeschmiedet.

Und wie sieht es bei den Jugendlichen aus? Nach gut zwei Wochen hat sich eine starke Beziehung untereinander und mit den Betreuern entwickelt. Der Abschied ist herzzerreißend. Als die Busse abfahren, um die jungen Eritreer und Syrier in eine neue Bleibe zu bringen, versprechen einige holländische Helfer spontan, am nächsten Sonntag zu Besuch zu kommen. In diesem Moment scheint der Krieg vergessen zu sein. Ein Samenkorn der Freundschaft und des Friedens im Hier und Heute ist ausgesät.

Sicher, dies alles ist zunächst nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die zum Teil stark traumatisierten Jugendlichen haben noch einen schweren Weg vor sich. Und mit ihnen die Menschen, die sie begleiten.  Aber ein Anfang ist getan.

Und eins steht bereits fest: die Flüchtlingsfrage hat-  spätestens jetzt -  für jeden Helfer ein Gesicht bekommen… das von Anbessa, Maya, Hadi und ihren Schicksalsgefährten hier in Mariënkroon.